Die Räume werden wieder kleiner

New Economy und Underground machen Schluss: Nächste Woche verabschiedet sich mit dem WMF der Club, dessen Gäste glaubten, mehr Zukunfts-Ahnung zu haben als die Zombies von McKinsey


Von Judith Berges und Robin Meyer-Lucht

 

Es gab einen Abend im WMF in der Ziegelstraße, da wurde die Essenz dessen, was diesen Club ausmachte, besonders spürbar. Es war der 12. Juli 2000. Rund 250 Leute hatten sich zur monatlich stattfindenden „mikro-lounge“ versammelt, um sich die Diskussion „alles streamt – vom pirate radio zum web tv“ anzuhören. Auf dem Podium saßen Vertreter von twen fm, von freshmilk.de, die Partybeobachterin Katja Meinhoff („Prada Meinhoff“) sowie Ole Lütjens von der Betalounge.com. Mit anderen Worten: Ambitioniert-chaotischer Underground traf auf Werbekaufmann traf Pop-Hysterie traf versiertes US-Kleinunternehmertum. Und alle redeten miteinander – ohne sich zu wundern, was denn wohl die Schnittmenge all dessen sei. Und das Team vom ZDF-Kulturmagazin aspekte erklärte dem Publikum die eigene Anwesenheit im WMF mit den treffenden Worten: „Weil hier Dinge passieren, die so an anderen Stellen in Deutschland nicht vorstellbar wären.“ Pointierter ließ sich der gemeinsame Glaube aller Anwesenden nicht zusammenfassen.

Besagte Schnittmenge, derer sich die Beteiligten vor knapp zwei Jahren noch so sicher zu sein schienen, wird nun ganz nüchtern auseinander dividiert. Tatsächlich bestand sie nie in etwas anderem als einem Tauschhandel ohne feste Substanz auf beiden Seiten. Wenn das WMF in der nächsten Woche die Ziegelstraße verlassen muss, um in kleinere Räume umzuziehen, dann endet damit auch der Traum vom guten Leben in einer Art drittem Raum zwischen Mainstream und Political Correctness. Das WMF mit seiner glamourös illegalen Vergangenheit und seinem Snobismus verkörperte die Liebesbeziehung zwischen Underground und erfülltem Konsumwunsch, die so schön ist, weil sie zusammen verspricht, was in der Realität nicht zusammengehört: Glitzer und Bedeutung, Ernst und totale Oberflächlichkeit – und das alles auf einer Party.

Dabei beruhen diese Form der Berliner Leichtigkeit und das Gerede von der New Economy auf derselben Art von Selbstbetrug. In beiden Fällen wurden Ausnahmesituationen zum prägenden Modell für die nächste Dekade hochgeredet. Das konnte nur funktionieren, wo wenig Geschichtsbewusstsein vorherrschte: in der neuen Wirtschaft und in der neuen Mitte. In dem einen Fall wurde die Technik, im anderen die Stadt mit religiösen Zuschreibungen versehen, die den Freiraum für die Synthese von Selbstverwirklichung und Wirtschaftlichkeit zu bieten schien.

So wurden ausgerechnet die Überreste der mietrechtlichen Anarchie des Nach-Wende-Berlin, auf deren Boden zunächst vor allem die illegale Partykultur und die Hausbesetzerszene blühten, zur geografischen und kulturellen Ergänzung der Neue-Markt-Goldgräberstimmung. Der Gegensatz aus Spaß und Ertrag, aus Selbstverwirklichung und Fremdbestimmung sollte sich dabei irgendwie verflüchtigt haben. Und es durften alle dabei sein.

Dieser Zustand wurde durch einen argumentativen Trick erreicht. Man erklärte sich zur Avantgarde eines demnächst unglaublich großen Marktes. Damit konnte man sich in einer Art Zwischenzeit einnisten, um sich darin als Vordenker, Geschäftsmensch und Künstler in einem zu fühlen, unabhängig davon, auf welchem Feld man tatsächlich tätig war. Plötzlich war Platz auch für diejenigen, die ohne wirtschaftliche Kenntnisse oder auch nur Interessen in diese angebliche „Gemeinschaft“ hineingeraten waren, einfach weil ihre Projekte im wesentlichen dort stattfanden, wo nun auch das neue Herz der Unternehmerzunft sein sollte: im Internet. So traf man sich zunächst buchstäblich im virtuellen Raum, und es sah dann schon mal komisch aus, wenn alle Beteiligten real aufeinander stießen. Aber genau das wurde ein optisches Kennzeichen der neuen Koalition, das ganz amerikanisch sagte: Hier kann jeder alles werden, und exklusiv sind wir allein durch unsere Ideen.

Die realen Widersprüche schluckte der virtuelle Raum, so lange, wie nicht die raue Wirklichkeit in Gestalt der Krise die Frage nach direktem Umsatz und erreichten Zielen immer dringender stellte. Die Argumentation derer, die man als die Inhaber des realen Kapitals bezeichnen könnte, wurde hoffnungsfroh übernommen von denen, die zwar Ideen, Stil und plötzlich auch Raum auf ihrer Seite hatten, aber keine Finanzkraft. Man wollte an die unwahrscheinliche Möglichkeit einer freundlichen Übernahme glauben. Unternehmen, geboren aus dem Geist der Subkultur: Der Kapitalismus wird doch noch gut!

In Ausgabe 36 vom Februar 2000 von de:bug, der Zeitschrift für elektronische Lebensaspekte, war zwar bereits mit warnendem Unterton zu lesen: „Die BWL übernimmt das Netz“, doch gerne fantasierte die Redaktion weiter über Handys, die MP3s zum DJ funken, oder Jackentaschen voller mobiler Computer-Gadgets. „Elektronische Lebensaspekte“ erwies sich als funktionaler Sammelbegriff für diese Leichtigkeit zwischen allen Stühlen. Man war sich ziemlich sicher, mehr Ahnung von der Zukunft zu haben als die Zombies von McKinsey, und wollte die mal eben zwischen zwei Plattenkritiken an die Wand schreiben.

Dieses Denken brachte Texte hervor, die in ihren besten Momenten die Berührungsmomente zwischen Ästhetik und Gesellschaft, Medium und Ideologie verhandelten. Doch inzwischen wird die subkulturelle Relevanz nur noch in Selbstzitaten angetäuscht, die längst einen ebenso perfekt geschlossenen kulturellen Kosmos gebildet haben wie der, dem man durch Offenheit und Selbstständigkeit voraus sein wollte. Die de:bug steht für die Erschöpfung des inhaltlichen Anspruchs. Nur der ästhetische Reiz ist geblieben.

Was sich auf der anderen Seite erschöpft hat, ist der Unternehmerglaube an die kommende Rentabilität der neuen Konzepte und Zielgruppen. Von den Strukturen bleibt lediglich die interessante Ästhetik. „Zu schön, um über Wirtschaft zu schreiben“, urteilte ein Mitarbeiter der Werbeagentur Scholz & Friends in einer E-mail an die Redaktion des stilbildenden Wirtschaftsmagazins brand eins und erklärte, „was brand eins ... ausmacht: die Romantik des Wissens“.

Doch inhaltlich macht sich Romantik nicht mehr bezahlt. Beispiel hierfür ist das Berliner Magazin Flyer. Dort durfte die Redaktion bis ins letzte Jahr ein Heft machen, das sich zu zwei Dritteln an das Umfeld der Autoren selber richtete. Nun aber versucht Herausgeber Mark Wohlrabe das finanziell angeschlagene Heft in den Mainstream zu steuern. Auf den Polaroids in der Heftmitte sieht man dämlich blickende und hysterisch gut gelaunte Partyschnitten beiderlei Geschlechts – ziemlich genau die Leute, denen man früher auf vielen im Flyer angekündigten Partys nicht zu begegnen hoffte.

Mit der heftigen Medienrezession ist die große Freiheit der Vordenker und Künstler vorbei. Allerorten wird der eben noch gehätschelte Mediennachwuchs nach Ende der Probezeit frei gesetzt. Mit der Anzeigenflaute kommt der Rationalismus alter Schule.

Möglicherweise wird das kleinere WMF, das die Betreiber dem großen schon bald folgen lassen wollen, wieder ein interessanter Club werden. Aber eben nur ein Club, nichts irgendwie darüber Hinausweisendes, keine Schnittstelle von Party, Kunst, neuer Wirtschaft und, auf diffuse Art, Politik. Alle können endlich aufhören, sich etwas vorzumachen.

Aus: Süddeutsche Zeitung, „Berlin Seite“, 8. März 2002